Gastbeitrag von Berit Sellmann
Grönland. Das Land duckt sich so sehr in die tarnende obere Rundung der Globuskugel und legt den Kopf dabei in einer Art unbeholfen an das Bein der oberen Rotierungssnadel, als fürchte es sich wie ein Kleinkind, das sein Gesicht in den Kniebeugen des Vaters drückt. Vor unbekannten Blicken.
Es war wortwörtlich weiß vor Angst. Im Gegensatz zu mir.
,,Hast du keine Angst?‘‘, fragte meine Mutter mich mit einer Blässe im Gesicht, die mich an die Farbe Grönlands auf der Karte erinnerte. Nachdem ich ihr meinen Entschluss mitgeteilt hatte, ein Dreivierteljahr in Grönland verbringen zu wollen. Ich verneinte. Bestimmt.
Lena, meine Gastmutter, mit der ich seit jeher in regelmäßigem Mail-Kontakt stehe, um mich auf meine Zeit in Grönland vorzubereiten, hat mit ihrer herzlich warmen Art, mit der sie mir anbot, sechs Wochen gegen kleine Haushaltshilfen in ihrer vierköpfigen Familie unterzukommen, meine letzten Zweifel schmelzen lassen wie gefrorenes Wasser.
Um mir meinen drei-Monat Aufenthalt in Grönland zu ermöglichen, vor allem aber den teuren Flug zu rechtfertigen, suchte ich jedoch noch nach einer zweiten Unterkunft.
Mein Wagemut, der meine Gedanken immer und immer wieder ohne Flugangst auf das weiße Land zusteuerte, steuerte das Unternehmen Greenland Cruises an. Greenland Cruises stellt Kreuzfahrttouristen an Grönlands Westküste Guides und Stadtführer zur Verfügung.
Einige Stunden nach Schreiben meiner Bewerbungsmail erhalte ich schon meine Antwort. ,,Ich brauche immer Guides! Normalerweise ziehe ich Einwohner vor, aber da diese sich manchmal schwierig finden lassen, kommt deine Anfrage gerade gelegen! Im Gegenzug biete ich dir einen Raum in meinem Haus an.‘‘, schreibt Ivik, der Gründer der Firma. Halb Däne, halb Grönländer. Immer wieder erinnert mich der folgende Satz an die großzügige Hilfsbereitschaft der Einwohner Grönlands, die mit einer für sie typischen Heiterkeit gewürzt ist. ,,Essen kannst du alles, was du in meiner Küche findest – so lange du nicht wie ein Nashorn isst!‘‘
Nie hätte ich damit gerechnet, dass sich zwischen das Abenteuer Au Pair und das Abenteuer Stadtführerin in einer fremden Stadt hundert Kilometer nördlich des Polarkreises so viel mehr Abenteuer verstecken können.
Eine Einladung in die Ursprünglichkeit
Sie hatten sich versteckt wie die bunten Holzhäuser, die sich so enthaltsam in den Schoß der Felsmulden legen, während mein Blick über sie schwebt wie der sich seicht die Dächer spinnende Nebel.
Das kleine Fischerboot schaukelt gefährlich unter unseren vier Fußpaaren, als wir unsere schweren Trekkingrucksäcke an Bord werfen. Als ich dem Fischer zum Dank die Hand reiche, merke ich dass sie zittert. So sehr, dass man beinahe hätte bezweifeln können, die Wellen waren es, die das Fischerboot ins Schwanken brachten. Wie unsere Blicke spinnt sich der Nebel um das 112-Seelen Fischerdorf. Das auf einer Halbinsel gelegene Dörfchen ist von unserem Ausgangspunkt Sisimiut – mit 5000 Einwohnern Grönlands zweitgrößte Stadt – nur per Fischerboot zu erreichen.
Nach langem Suchen hatten wir am Vortag einen grönländischen Fischer gefunden, der uns anbot, uns vom Hafen in Sisimiut nach Itilleq zu bringen.
Mein Blick schleicht sich in die kältegeschminkten Gesichter meiner beiden Mitreisenden. Meine deutsche Freundin Caro, der die Entscheidung, mich in Grönland zu besuchen, wegen dem Beruf ihres Vaters – er ist Pilot – nicht schwer fiel, hievt ihren Rucksack auf den Rücken. Johannes, ein Schweizer, den wir beiden einige Tage zuvor zufällig in der Stadtbücherei Sisimiuts getroffen haben, vergisst seinen Rucksack beinahe auf dem Steg des Bootanlegeplatzes wie eine zufällige Metapher für den Gedanken, jeglichen Ballast und Luxus für einige Tage liegen zu lassen. Einzutauschen gegen Erlebnisse in menschenleerer Wildnis.
Wie der Geist einer verlorenen Seele schleicht der Nebel um die Dachspitzen der bunten Holzhäuschen. Wie von ihm unterdrückt, ducken sich einige der Häuser tief in das sattgrüne Moos der Bergmulden. Der wilde Wind zieht an den Kleidungsstücken, die an einer Wäscheleine hängen, teilweise befleckt, teilweise löchrig. Ihr wildes Flattern wirkt auf mich beinahe wie eine überschwänglich winkende Hand. Willkommen, Fremde!
Uns streicht er vorsichtig über das Gesicht, wie eine Begrüßung. Das Meer hatte uns in seine Arme gelaufen übereifrig begrüßt; Seine Umarmung war eisig gewesen, als wir in dem Motorboot saßen, um das 40 km südlich von Sisimiut gelegene Dörfchen zu erreichen. Starr vor Kälte.
Einwohner des Dorfes leben noch völlig ursprünglich von Jagd und Fischfang. Eine Grundschule mit sieben Schülern ist hier die einzige Möglichkeit zur Bildung. Mit einem leicht abfälligen Blick beäugt uns ein geschätzt vierzehnjähriger Junge, bevor er seinen Blick wieder der Zigarette schenkt, die mit einem aufdringlichen Glühen ungeduldig in seiner Hand wartet.
Bereits in Sisimiut haben mich die Kinder, die man ab einem Alter von dreizehn Jahren beinahe alle mit Zigarette im Mund antrifft, unzählige Kopfschütteln gekostet. Erst, nachdem ich verstand, dass Perspektivlosigkeit viele junge Grönländer belastet, fing ich langsam an, vorsichtiges Verständnis zu zeigen. Vor allem Jugendliche, aber auch Erwachsene, die in Städten in Gemeindehäusern leben, da sie aus ihren aufgelösten Heimatdörfern von der Regierung in die Städte verbannt wurden. Wurde ihr Leben einst von Fischfang und Jagd dominiert, müssen diese jetzt nicht nur einen Platz in der Gesellschaft, sondern auch einen Job finden, um sich über Wasser zu halten. Diese jedoch, sind in Grönland rar gesät.
Als hätte er unseren Blick erkannt, der wie herrenlose Hunde über das Dorf wandert, taucht jäh ein etwa vierzig Jähriger Grönländer zu unserer Rechten auf. Kaum steht er neben uns, hüllt Johannes ihn in ein Gespräch ein. Ich sehe in den Augen des Grönländers leichtes Erstaunen aufblitzen. Die Vorteile von Johannes’ Grönländischkenntnissen, die er sich in völligem Selbststudium angeeignet hat, nachdem er vor vier Jahren den Arctic Circle Trail gewandert ist, werden mir erst jetzt richtig bewusst.
,,Kommt doch für ein paar Minuten zu mir!‘‘, übersetzt Johannes uns. Der Stolz, dieses auf einer Halbinsel gelegene Dorf Itilleq besuchen zu dürfen, bevor es die grönländische Verkehrssprache Dänisch geschafft hat, schleicht sich in mein Herz. Das Lächeln, das der Grönländer uns durch seine Zahnlücke zusteckt, wirkt genauso einladend wie die Holztür des kleinen roten Holzhauses von dessen Holzschindeln die Farbe abblättert wie jegliche Gedanken an Luxus von meine Vorstellung. Erst, als ich die baufällige Holztür hinter mir und meinen Mitreisenden schließe, fällt mir der Eimer auf. Verschlossen von einem Plastikdeckel lehnt er an der fleckigen Wand. Ich schmunzele, bevor ich dem gedehnten Orientteppich folge, der versucht den Staub von dem glanzlosen Parkett zu lecken scheint. ,,Wir haben kein fließendes Wasser hier.‘‘, übersetzt Johannes. Ich weiß nicht, ob sich durch die Falten, die sich bilden, als er mir vorsichtig zulächelt, Scham, Bedauern oder Stolz rinnt. Meine Mitabenteurer lassen ihre Blicke durch die Küche und das Wohnzimmer gleiten, in die der Flur mündet.
Ein Rahmen aus Holzbrettern, verdeckt von einem zur Seite schiebbaren Vorhang, ersetzt die Küchenkommode. Die verblichene Blümchentapete, scheint nicht nur das Holz dieser Bretter versuchen zu verkleben, sondern auch die Spartanität, die dieses Haus widerspiegelt.
Mit der Erdbeermarmelade in der Hand, bedeutet uns der Grönländer, uns hinzusetzten. Beinahe wie von selbst füllt sich der Tisch mit Brettchen, Tassen, einer Packung Brot, Marmelade und Käse. Meine Augen hängen immer noch an der anspruchslosen Einrichtung des Hauses. Meine Gedanken hängen an der Feststellung, dass dies nicht nur eine Einladung zum Frühstücken und Erholen ist. Sondern auch eine Einladung in die Ursprünglichkeit.
,,Ich muss gehen. Arbeiten.‘‘, übersetzt Johannes uns und durchbricht dort mit unser nachdenkliches Schweigen, das wie durch die fast tonlosen Wellenschläge unterlegt wird, die vor dem milchigen Glas des Fenster gegen die Felszungen des Ufers schlägt.
Satt verlassen wir einige Minuten später das fünfzig Quadratmeter Haus, in dem uns der Grönländer alleine zurück gelassen hat. Was ein Vertrauen!, denke ich noch, als wir wenige Minuten später im einzigen Supermarkt stehen. Die Waren, die sich hier auf sechs Regale und das Mindeste beschränken, das zum Leben unverzichtbar scheint, werden wöchentlich von einem Versorgungsschiff aus Sisimiut geliefert. Da alle Waren aus Dänemark importiert werden müssen, lassen sich die Preise kaum mit den der anderen Länder Europas vergleichen. Sie scheinen in kleinen Dörfern wie Itilleq noch einmal aufzusteigen. Wie die Frage in meinen Kopf: Wie sollen die Bewohner sich das leisten?
,,Kommt später Abend zu uns, wir laden euch zum Abendessen ein!‘‘, sagt die Leiterin des Supermarktes. Wie als könnte sie Spuren erkennen, die der eisige Arktiswind auf dem Meer auf unserer Haut hinterlassen hatte, fragt sie: ,,Kaffee?‘‘
Mit Hilfe der Helle des Polarsommers, schlagen wir später abends nach einer einstündigen Inselüberquerung, unser Nachtlager auf. Das Zwei-Mann-Zelt, das mein Gastvater mir zur Verfügung stellte, muss uns dreien für diese Nacht Platz bieten. Drei neugierige Kinder-Augenpaare drei der sieben Kinder, die auf der Insel die Grundschule besuchen, starren uns beim Aufbau zu. Sie verfolgen jede unserer Bewegungen aufmerksam, als staunen sie über den Fakt, ein Iglu könne auch ohne Eis gebaut werden. Vielleicht, denke ich, ist ihr Blick auch eine Aufforderung zur Vertreibung ihrer Langeweile.
Später, nachdem Caro und Johannes die Blicke der Kinder mit Hilfe eines Fußballs in den scheinbar glücklichsten der Welt gezaubert haben, machen wir uns auf den Weg, um die Einladung einzulösen, die uns die Supermarkt Verkäuferin gemacht hat. Wir marschieren auf das große, cremefarben gestrichene Haus zu, auf das sie vorher verwiesen hat. Nebel und Wind laufen im Gleichmarsch neben uns her in Richtung Abend.
Etwas unbeholfen schweifen unsere Blicke später durch das Wohnzimmer, an dessen weißen Wänden Fotografien Platz finden wie eingerahmte Erinnerungen an vergangene Zeiten. ,,Tolle Fotos!‘‘, sage ich. Die Frau nickt und fängt meinen Blick auf. ,,Ich möchte nirgendwo anders leben!‘‘, sagt sie und ich finde in ihren Augen einen Funken Wahrheit aufblitzen. Dann entzieht sie sich meinem Blick und deutet auf die Töpfe auf dem Tisch. Reis und Fischfrikadellen. ,,Selbst gefangen!‘‘, sagt sie stolz.
,,Esst, esst!‘‘ Wir lassen uns auf dem Esstisch nieder. ,,Bevor wir es den Hunden dahin schmeißen!‘‘
Abends, als ich wach im Zelt lege, höre ich dem Heulen der Schlittenhunde zu, wie es sich durch die helle Stille kämpft, die sich über das Dorf gelegt hatte.
Angekettet lagen sie auf einem kalten Stück Felsen, als sie mich mit ihren müden Augen musterten. Mit dem apathischen Blick, den sie mir entgegengeworfen hatten, als ich an ihnen vorbei gelaufen war, wollte ich die Stimme beinahe ignorieren, die sich in meinem Kopf schlich. ,,Diese Hunde sind hier keine Haustiere! Sei vorsichtig! Es gibt Geschichten, in denen ein hungriger Grönlandhund Kleinkinder angegriffen haben!” Das Hundeschlittenfahren dient auch in heutigen Tagen noch als vielgebrauchtes Mittel der Fortbewegung. Werden in Nord- und Ostgrönland auch Touren über das gefrorene Meer gewagt, führen die Grönländer ihre Schlitten in Westgrönland eher durch das unter einer Schneedecke liegende Gelände.
Die Sonne, die mich am nächsten Morgen aus dem Schlaf lächelt, zwinkert uns Glück für unsere Weiterreise zu. Noch nicht wissend, ob wir einen Fischer finden, der uns zum Punkt bringt, an dem unsere Wanderung startet, sind wir mit unserem Aufbruch ein kleines Risiko eingegangen.
Zum Ziel haben wir uns gesetzt, von einem Punkt weiter nördlich ans Nordufer eines Land Einschnittes bis zum Ufer gegenüber von Sarfannguit zu laufen. Sarfannguit ist mit seinen 125 Einwohnern leicht größeres Dorf als Itilleq. Von dort aus haben uns Bekannte von Johannes versprochen, uns nach Sarfannguit zu bringen.
Wir laufen in die Arme der Wildnis
Das Meer begrüßt uns mit offenen Armen, er ist überschwänglich in seiner Begrüßung, als wir wieder aufs Meer hinaus fahren. Das stetige Klatschen der Wellen gegen die Bootswand mischt sich mit dem penetranten Rauschen des Windes zu einem Betäubungston, der die Kälte verdecken will, die das Meer uns ins Gesicht spuckt. Meine Hände sind so eisig, dass ich sie kaum noch spüre.
Nachdem wir mit tauben Beinen aus dem Boot hüpfen und uns mit einem Dankeschön bei unseren zweiten Fischer bedanken, klingt das Pfeifen des Windes in meinen Ohren wie ein Abschiedsgruß. Die steile Gebirgswand, die sich vom Ufer gen blauen Himmel zieht, lässt den Bewuchs der grönländischen Tundra unter Sonne glänzen wie flüssiges Gold. Nach den ersten Kilometern unserer insgesamt etwa 7-stündigen Tagestour, schmilzt mein Optimismus unter den Strahlen der grönländischen Sonne und lässt ihn in Schweiß meinen Rücken herunter rinnen. Der Rucksack klebt an mir wie meine Gedanken an dem Gedanken an den zahlreichen vor uns liegenden Kilometer durch die menschenleere Wildnis.
Unsere Beine teilen sich das Gewicht unserer Rucksäcke mit der Gewalt der Natur, die uns auf unserer Wanderung durch die wilde Landschaft überrascht und wie automatisch weiter nach vorne schiebt. Man kann süchtig werden nach dem Anblick der blauen Seen, die in den Tälern der Berge aufwarten. Wie ein Lohn für die Anstrengung.
In den Moorlandschaften versetzt mich das Summen der Mücken mit dem immer gleichen Rhythmus meiner Schritte in eine beinahe tranceartige Stimmung.
Aufstieg, Abstieg, Moor, See. Aufstieg, Abstieg, Moor, See. Aufstieg, Abstieg, Moor, See.
Wie ein Weckversuch überrascht mich eine Gestalt auf einem Berggipfel. ,,Ein Rentier!‘‘, schreie ich. Das Tier verharrt einige Sekunden in seiner Position. Dann springt es fluchtartig über die Grenzen unseres Sichtfeldes.
Fünf Stunden trennen uns von dem Moment, in dem wir mit tauben Beinen aus dem Boot gestiegen sind, als wir uns am Ende unserer Kräfte an einem der glasklaren See nieder lassen. Reglos liegen wir im Schoß der vom Sommer bepinselten Tundra. Zur Seite türmen sich die Gebirgsspitzen wie prometheische Beschützer. Ich atme ein. Und aus. Die Luft ist so klar. Sie riecht nach Freiheit.
Mit einem unsichtbaren Kopfschütteln sehe ich Johannes dabei zu, wie er nach seinem Handgriff in den Rucksack, den er von seinem Rücken geschüttelt hat, die Karte anstatt unseren Essenproviant heraus zieht. Mein Magen knurrt. So laut, dass er sich über das leise Plätschern des Sees legt, dem ich meine Beine entgegen strecke. Ich schließe meine Augen. ,,Wir haben mindestens noch die Hälfte der Strecke vor uns!‘‘, weckt Johannes feste Stimme mich aus meinem Tagtraum (Ich kann nicht leugnen, dass ich mir während diesem in ein kräftigendes Vollkornbrot gebissen habe). Mit Johannes Bekannten aus Sarfannguit – bei denen er auch schon vier Jahre zuvor beim Wandern des Arctic Circle Trails unterkam – haben wir abgemacht, dass sie uns am Abend um sechs vom Ufer abholen. Dass wir zur Not einen Alternativtermin ausgemacht haben – nächster Tag, selbes Ufer – wärmt mich mit Erleichterung, wie die schüchternen Sonnenstrahlen, die mein Gesicht erwärmen. Ich will jetzt nicht weiter laufen. Ich will essen. Und die Sonne genießen. Jetzt.
Zahlreiche Verpackungen leerer Müsliriegel neben leere Butterbrotdosen, erinnern mich nur wenige Minuten später an den Moment, in dem ich im Sisimiuter Supermarkt mit einem abfälligen Blick in unseren zu vollen Einkaufskorb Johannes und Caro darauf aufmerksam gemacht habe, unsere Rucksäcke nicht zu überlasten. Ich versuche unauffällig nach einer der beiden letzten Brotscheiben zu tasten. Johannes studiert die Karte mit zusammen gekniffenen Augen. Kaum, dass meine Hand die Brottüte berührt, fährt Johannes Blick zu mir. ,,Da muss ich jetzt echt streng mit dir sein!‘‘
Ich habe beinahe keine Zeit, dem angenehmen Sättigkeitsgefühl nachzuhängen, als wir wieder aufbrechen. Eine plötzliche Erschöpfung legt mit jedem Meter, den wir über den nachgiebigen Moorboden hinter uns lassen, einen neuen Stein in meinen Rucksack. Wir laufen auf der Stelle. Kommen nicht weiter. Die Köpfe des Wollgrases lassen ihre Köpfe vom streifenden Wind verwehen. Für einige Sekunden überkommt mich der Wunsch, ihnen gleich zu tun. Dann erinnert mich eine Stimme, die fast vom lauthalsen Schwirren der Mücken verschluckt wird, die sich um mein Blut streiten, dass ich nicht die einzige mit diesem Wunsch bin. Zwei hängende Köpfe können wir uns nicht leisten, denke ich, während ich dabei zusehe, wie sich die Beine meiner Freundin genauso mühsam durch die steigende Tundra quälen wie ihre vom Wind verzerrten Stimme bis sie mich erreicht. ,,Warum tut man sich so was überhaupt an!‘‘ Ich sehe dabei zu, wie ihr Wanderstock in hohen Bogen den Kopf im Moor stecken bleibt.
Ich. Will. Endlich. Ankommen.
Hungrige Flammen
Wie einen Parasit streife ich den Rucksack von meinem Rücken, als wir Stunden später wieder an einem der Seen ankommen. Ich tue es dem See nach, der sich in eine ungewöhnliche Länge ausweitet und strecke meine Beine ganz weit weg von mir. Als wollte ich so auch den Schmerz von mir entfernen, der sich während der letzten Meter durch meine Füße zog.
Es ist Johannes Stimme, die uns wieder aus unserem stillen Schweigen angelt. ,,Also, Leute, wie sollen wir weiter vorgehen? Entweder gehen wir jetzt weiter mit der Hoffnung, doch noch heute Abend am Ufer anzukommen.‘‘ Er macht eine Pause. Ich weiß, es ist eine Kunstpause. Johannes ist sich zu stolz, um sich seine Erschöpfung anmerken zu lassen. Ich lächele, ohne es zu wollen. ,,Obwohl ich denke, dass wir es bis zu dem vereinbarten Treffpunkt nicht schaffen werden. Und wir haben hier keinen Empfang.‘‘ Wir nicken stumm, müde. ,,Oder wir schlagen unser Nachtlager hier auf und laufen morgen weiter!‘‘ Es sind meine brennenden Beine und mein schmerzender Rücken, die bei Johannes‘ letzten Vorschlag nicken.
Der Vollmond, der sich schemenhaft vom blauen Himmel abzeichnet, scheint ein leuchtendes Lächeln zu senden vom Blau des Himmels, den der Polarsommer in einem leicht helleren Ton zeichnet als das Wasser des Sees, von dem ihn ein kleiner Uferstreifen trennt.
Das Zelt Aufbauen gestaltet sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten leicht. Leichter, als das Finden von geeignetem Material für ein Lagerfeuer. Wie soll man in einem Land, in dem es keine Bäume gibt, Feuerholz finden?
,,Ein Feuer in Grönland! Krass!‘‘, Caro lacht ausgelassen in die Flammen. Das Feuer schlägt für einige Sekunden hungrig um sich, verschlingt die Wurzeln, die wir ihm füttern und meine Gedanken an die noch vor uns liegenden Kilometer. Die Wärme tut gut.
Die langsam sterbenden Flammen geben den Blick frei auf die Regungen des Wassers. Die Kälte, die sich langsam um meine Beine spinnt wie ein unsichtbares aus dem See kriechendes Ungeziefer, kann ich durch den diffusen Kältenebel beinahe sehen. Es knabbert an meinen Füßen wie zur Erinnerung, in welchem Land ich mich hier befinde. Grönland.
Am nächsten Morgen werde ich geweckt von den Stimmen von Johannes und Caro, die nicht nur mit Händen und Armen das Zelt schlagen. Auch ihre Stimme prallt gegen die Wände des Zeltes, zieht mich aus meinem Schlaf. ,,Diese Viecher! Die ganze Plane ist ganz schwarz voller Mücken!‘‘ Auch die Sonne sitzt auf die Plane des Zeltes und wärmt es auf, dass ich unter meinem Schlafsack schwitze.
Wir waschen uns im eisigen Wasser des Sees und putzen unsere Zähne. Würde mich jemand fragen, woran ich denke, wenn ich das Wort FREIHEIT höre; Ich würde ich nicht zuletzt den Geschmack dieses Wasser aufzählen. Die kühle Frische, die meinen Rachen herunter läuft, spüre ich auch noch mehrere hundert Schritte über das nächste Stück.
Beinahe als wollte die Natur unser Gewissen beruhigen, belohnt sie uns immer wieder mit dem Ausblick auf tiefblauen Seen. Die Bewegungen des Wassers recken sich in der Reflektion der Sonnenstrahlen zur Ästhetik hinauf. Wie ein Ablenkungsmanöver, denke ich, von meinem gegen späten Mittag streikenden Magen. Ein halbes Brot und eine Möhre waren am Morgen für jeden von uns übrig. Genau so wenig, wie lange wir den Tag noch unterwegs sind, weiß ich, ob ich mich lieber dafür schämen soll, dafür verantwortlich gewesen zu sein, weniger Proviant eingepackt zu haben. Oder dafür, am Abend zuvor zu sehr zu geschlagen zu haben.
Es dauert unzählige Schritte, bis Johannes plötzlich stehen bleibt, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Wie lange werden wir noch brauchen, bis wir den Fjord, unser Ziel, zu erreichen?
Ein Polarhase traut sich hinter einer Gebirgserhebung hervor. Kaum will ich mich den anderen zuwenden, hält mich Johannes‘ Rufen davon ab. ,,Nein, das gibt es nicht!‘‘, schreit er beinahe. ,,Wir haben hier Empfang!‘‘ Wie ein selbstloser Glücksbringer verschwindet der Polarhase aus unserem Blickfeld. Das plötzliche Hochgefühl, lässt keine Gelegenheit, mich zu wundern, dass meine Beine noch im Stande sind, einen Freudentanz aufzuführen.
,,Ich schreibe eben eine SMS, dass wir in einer knappen Stunde am Fjordufer stehen.‘‘ Beim Gedanken an die Ankunft. Beim Gedanken an eine Dusche. An einen Platz am Esstisch. Sprudelt die Energie zurück in meinen Körper. Zwei Tage haben wir in der Wildnis verbracht, dabei fühlt es sich an wie eine Woche.
Wie ein letzter Eignungstest wartet der Steinbruch. ,,Du hast leider keine ängstliche Mutter, oder?”, höre ich Johannes‘ Stimme von unten. Das Auslösen der Kamera durch die vor Konzentration gespannte Luft. Ich schaue zu Johannes. Kaum, dass ich verneine, gibt ein Stein unter meinem rechten Fuß nach. Droht, in die Tiefe zu fallen. Schnell ziehe ich meinen Fußweg und lege ihn in einem Felsspalt. Atme ein. Tief. Hastig. Bestanden.
Wie eine entfernte Zielflagge bewegen sich die Wellen vom wilden Wind am Fjord. Erst, als wir die Hände unserer Abholer schütteln, spüre ich, wie schlapp meine sind. Erleichterteres Gelächter tönt von den Bergwänden wider. Es ist, als habe ich all meine Anspannung am Fjord zurück gelassen. Sie könnte eine der schweren Steine am Ufer sein, die kleiner und kleiner werden, umso schärfer die Häuser Sarfannguits vor uns auftauchen. Sie klemmen sich an den abfallenden Hang, als fürchteten sie, dieser würde sie ins Meer schütteln.
Nur den Hunger, den Stolz, so viele Kilometer aus eigener Kraft durch die grönländische Wildnis hinter mich gebracht zu haben, verfolgen mich die Treppen hoch ins Dorf.
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